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Kritik von Werner Zintgraf zum Konzert am 17.12.1978
Nun ist Mozarts c-Moll-Messe vollständig
Über 700 Zuhörer erlebten große Leistung von G. Kaufmann und seiner Kantorei

Nagold. Für den Kantor und Komponisten Gerhard Kaufmann mag es gleich mehrere Reizfaktoren gegeben haben, für Mozarts große Messe in c-Moll (KV 427) den fehlenden liturgischen Teil "Agnus Dei" endlich nachzuliefern, etwa nach dem Grundsatz, was dem Requiem nicht schadete, kann dieser Messe nur nutzen. In dieser Parallele gibt es jedoch zwei gravierende Unterschiede: Mozart nahm den Auftrag an, für einen reichen Herrn ein Requiem zu schreiben, der es als sein eigenes Werk der Öffentlichkeit präsentieren wollte, weil er sich in seinem Todesjahr in einer elenden Geldnot befand; seine Frau konnte das Honorar erst kassieren, als sie die vorhandenen Skizzen durch den Schüler Süßmayr ausarbeiten ließ.
Der Messe-Torso jedoch diente bereits acht Jahre früher dazu, seine Constanze endlich dem Vater Leopold und der Stadt Salzburg als Solistin vorzustellen und ein Gelübde einzulösen, was am 26. Oktober 1783 geschah. Mozart schwor nämlich, eine große Messe zu schreiben, wenn Constanze mit ihm den Ehebund einging. Es gibt keine plausible Erklärung, warum er diese Messe nie zu Ende schrieb. Daß die vorhandenen Manuskriptfragmente später bis zum "Benedictus" vervollständigt wurden, entsprach einem Bedürfnis der Mozart-Verehrer.
Wenn man Mozarts folgenschweren Streit mit dem Salzburger Fürst-Erzbischof Colloredo 1781 als Ausgangspunkt nimmt, die liturgische Musik in den Konzertsaal zu tragen und sie oratorien- und opernhaft auszuweiten, findet man zumindest im "Gloria" dafür eine Bestätigung. Der Einschub großer Arien und Duette hat den liturgischen Rahmen erheblich gesprengt. Andererseits mag seine Hinwendung zum freimaurerischen Humanismus und Ritual (er trat am 14. Dezember 1784 der Loge "Zur Wohltätigkeit" in Wien bei) bei ihm auch eine Konfliktsituation zwischen liturgischer Strenge und schöpferischer Freiheit ausgelöst haben. Mozart hat nämlich unentwegt experimentiert, was man aus der heutigen Sicht leicht übersieht. Zumindest schrieb er (außer den Skizzen zum Requiern) nach 1783 kein größeres liturgisches Werk mehr und verwendete sogar den größten Teil der C-Moll-Messe 1785 für die humorvolle Kantate "Davidde penitente" (Der bußfertige David)!
Der hier nur kurz skizzierte historische Ausflug mag vielleicht zum Verständnis beitragen, was einen Musiker unserer Zeit reizt, einen nachgelassenen Torso zu vervollständigen. Es ist sogar anzunehmen, daß viele Mozart-Liebhaber auf dieses "Agnus Dei" schon lange warten. Und hier bleibt gleich anzumerken, daß es Gerhard Kaufmann in überzeugender Weise gelungen ist, sich mit Mozarts Kompositionstechnik vertraut zu machen und für eine Weile in dessen geistige Haut zu schlüpfen. Zugleich ein Beweis, daß er nicht nur "modern" komponieren, sondern sich auch mit dem Werk eines alten Meisters völlig identifizieren kann. Insoweit kann die Aufführung der komplettierten Messe am vergangenen Sonntag auch ein musikhistorischer Markstein sein. In der Provinz allerdings - und die nimmt die große Musikwelt kaum zur Kenntnis.
Aber nicht nur dieser "Uraufführung" wegen brauchten die über 700 Zuhörer den glatteisgefährdeten Weg nicht zu bereuen: die Evang. Kantorei kann mit diesem Konzert und den eingesetzten Vokalsolisten einen weiteren Lorbeerkranz zu den Erfolgen reihen. Ihr in den letzten Jahren bezeugter Mut zum Risiko gewinnt zunehmend, und verdient öffentliche Resonanz.
Wenn sich beim einleitenden "Kyrie" durch das zu zäh angelegte Tempo noch Verkrampfungen bemerkbar machten, so konnte sich der Chor bald von diesen lösen und lief, als die Männerstimmen das gregorianische "Gloria" intonierten, zu immer größerer Form auf. Dieser Wechselgesang zwischen vier- bis achtstimmigen Chor und drei Solostimmen ist ein kompositorisches Meisterwerk höchsten Ranges. In den illustrativen chromatischen Modulationen, besonders ausgeprägt im achtstimmigen "Qui tollis" und im Fugenfinale, bewährte sich der Chor hervorragend sowohl in seiner homogenen Klangmischung als auch durch Musikalität und beweglichen dynamischen Ausdruck. Auch das "Credo", wo die Absicht des Bearbeiters Alois Schmitt auf eine liturgisch gestraffte Fassung eindeutig zu erkennen ist, fordert vom Chor höchste Konzentration, ebenso das "Sanctus" und "Benedictus".
Die Programmnotiz in bezug auf die Solisten verwirrte: Sopran I übernahm nämlich die österreichische, in Düsseldorf lebende Reingard Didusch. Eine Sängerin mit überdurchschnittlichen Stimmqualitäten, mit fülligem Timbre, auch in den höchsten Lagen und virtuosen Koloraturen noch von betörendem Schmelz. Sie war auf dem besten Weg, der routinierten Kari Lövaas, mehrere Jahre an der Stuttgarter Oper zur ersten Garnitur zählend und jetzt in Schaffhausen (Schweiz) ansässig, in der zweiten Sopranpartie fast die Schau zu stehlen. Insoweit gelang es Gerhard Kaufmann, zwei Spitzenkräfte ihres Faches hier vorzustellen, die rundum zum echten Erlebnis wurden. Ergänzung fanden die vom Komponisten gewollt dominierenden Partien in dem stets zuverlässigen Stuttgarter Tenor Wolfgang Isenhagen und dem lyrischen Bariton Friedmann Seiler aus Ansbach.
Was sich allerdings tags zuvor schon bei der Hauptprobe "hinter den Kulissen" abspielte, sorgte für viel Aufregung und Ärger, denn R. Didusch weigerte sich, die Partie im neukomponierten "Agnus Dei" zu übernehmen, obwohl sie zur Einstudierung drei Wochen Zeit gehabt hätte. Ein völlig unverständliches Verhalten, für eine hohe Gage ein ganzes Konzert zu "schmeißen" So blieb Gerhard Kaufmann nur noch die Chance, am Samstag nach einem Ersatz Ausschau zu halten. Er fand ihn in der jungen, begabten Iris Schröder aus Stuttgart, die den beiden "Stars" in nichts nachstand, sich vielmehr auszeichnete, die nicht leichte Partie mit zum Teil enormen Intervallsprüngen quasi "vom Blatt" zu singen. Eine bravouröse Leistung, die mit einem großen Kompliment gewürdigt werden muß.
Natürlich belasteten diese Vorkommnisse alle Mitwirkenden, mit Ausnahme der reichlich phlegmatisch reagierenden Stuttgarter Philharmoniker, die es nicht für notwendig hielten, sich die Stimmen vor der Hauptprobe auch nur einmal anzusehen; dementsprechend farb- und impulslos blieb ihr Spiel. Daß dann das "Agnus Dei" doch noch eine sehr beeindruckende Wiedergabe erfuhr, ist vor allem dem leidenschaftlichen Einsatz des Dirigenten zu verdanken. Hier ging es schließlich um seine Bewährung - und ein Mißerfolg hätte alle mühevollen Vorarbeiten und auch seine Neuschöpfung zunichte machen können. Aber der Chor und die vier Vokalsolisten setzten sich mit einer bewundernswerten Energieleistung für ihn ein.
Auch wenn man aus historischen Gründen diese Hinzufügung eines völlig neuen Messeteiles in Frage stellen könnte - wie Gerhard Kaufmann mozartschen Intuitionen nachspürte, wie er kompositorische Strukturen aus dem Kyrie und Gloria in sublimster Weise zu einem kongenialen Agnus Dei mischte, war für den Rezensenten eine echte Überraschung. Und wenn er seine Absicht nicht so deutlich auf dem Programmblatt artikuliert hätte, wäre außer Kennern der Messe niemand auf die Idee gekommen, daß hier nicht Mozart, sondern ein Nagolder Kantor als Autor
zeichnete.
Es würde zu weit führen, jetzt noch Vergleiche mit dem Torso-Bearbeiter Alois Schmitt oder gar mit Mozarts Schüler Süßmayr im Requiem anzustellen, doch vor beiden kann Gerhard Kaufmann glänzend bestehen, mehr noch, keiner hat überzeugender mozartsche Stilistik imitiert. Dies trifft vor allem auch auf die Instrumentierung zu. "Ich wollte einmal auch den Beweis liefern, daß es mir möglich ist, mich in die Musik alter Meister voll einzuleben, andererseits war es mir ein dringendes Anliegen, diese Messe in ihrer Ausgangstonart auch wieder zu schließen" begründete er sein Unternehmen.
Der Messe voraus interpretierte der Nürtinger Kantor Karl Böbel Mozarts "Fantasie f-Moll" (KV 608), 1791 für eine Spieluhr komponiert. Der experimentelle Erfindungsreichtum, wie er gerade in den kleinen Formen bei Mozart erfahrbar wird, zeugt in einer suitenhaften Reihung von Präludien, Fugen und melodiös-Iinearen Phasen von kühnen, kraftvollen Modulationen und konzentrierter Formgestaltung. Karl Böbel setzte diese gedankliche Konstruktion in einen begreifbaren, für den Hörer nachvollziehbaren Zusammenhang. Auch er trug seinen Teil bei, daß dieses denkwürdige Konzert zum bleibenden Erlebnis für alle Mitwirkenden und die große Schar der Zuhörer geworden ist.

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